Mit logistischen Kennlinien werden Wirkzusammenhänge zwischen
logistischen Zielgrößen in der unternehmensinternen Lieferkette qualitativ und
quantitativ in Form von Graphen dargestellt. Die unternehmensinterne
Lieferkette umfasst hierbei die Kernprozesse Beschaffung, Produktion, Komplettierung
und Distribution (Abb. 1 oben). Jeder Kernprozess hat unterschiedliche
logistische Zielgrößen. Aus diesen Zielgrößen ergibt sich ein Spannungsfeld,
welches sich im Allgemeinen zwischen Logistikleistung und Logistikkosten
aufziehen lässt (Abb. 1 Mitte). Für Unternehmen ist es unmöglich, zeitgleich ein
Optimum aller Zielgrößen zu erreichen. Vielmehr müssen sie sich zwischen den
logistischen Zielgrößen positionieren. Ein Werkzeug hierfür liefern die
logistischen Kennlinien (Abb. 1 unten).

Abb. 1: Kernprozesse, Zielgrößen und Logistische Kennlinien
Der Beschaffungsprozess wird von der Produktion durch ein Rohwaren-
bzw. Halbfabrikatelager entkoppelt. Zur Sicherstellung einer hohen
Logistikleistung muss das Lager einen hohen Servicegrad und einen geringen
Lieferverzug garantieren. Um niedrige Logistikosten zu realisieren muss dies
bei einem möglichst niedrigen Lagerbestand erfolgen. Wie die Lagerkennlinien
(Lutz 2002, Glässner 1995, Nyhuis 1996) zeigen, sind diese Zielgrößen
gegenläufig. Bei einem hohen Lagerbestand kann ein hoher Servicegrad und ein
niedriger Lieferverzug realisiert werden, da alle Teile verfügbar sind. Bei
einem abnehmenden mittleren Lagerbestand kann die Nachfrage teilweise nicht
mehr bedient werden, folglich sinkt der Servicegrad und der Lieferverzug
steigt.
Die logistischen Zielgrößen in der Produktion sind die Durchlaufzeit
und die Termintreue (Logistikleistung) sowie die Leistung und der Work In Process (WIP) (Logistikkosten).
Die Produktionskennlinien zeigen, dass die Leistung (Output des Systems pro
Zeit) und damit die Auslastung bei einem hohen WIP weitgehend WIP-unabhängig
sind. Bei einem hohen WIP liegen zudem am Arbeitssystem lange Warteschlangen
vor, was zu langen und stark streuenden Durchlaufzeiten und damit zu einer unzureichenden
Termintreue führt. Sinkt der WIP unter einen bestimmten Wert, fällt die
Leistung, da zeitweilig zu wenig Arbeitsvorrat am System vorhanden ist. Bei
einem niedrigen WIP sinken die Durchlaufzeiten sowie ihre Streuung, was zu
einer höheren Planungssicherheit und Termintreue führt (Nyhuis, Wiendahl 2009).
Das Zusammenfließen mehrere Materialflussströme wird durch einen
Konvergenzpunkt beschrieben. In einem solchen Konvergenzpunkt, der bspw. in der
Montage oder dem Versand auftritt, findet die Komplettierung von Aufträgen
statt. In den Konvergenzpunkt fließen die Materialflüsse der Versorgungsprozesse
(Produktion, Lager, Beschaffung). Ziel der Komplettierung ist es, einen
möglichst hohen Anteil an komplettierten Aufträgen sicherzustellen. Dabei
müssen sowohl der Bestand an zum Bedarfstermin fertig komplettierten Aufträgen maximiert
als auch der Bestand an nicht fertig komplettierten Aufträgen (gestörter
Bestand) minimiert werden. Das Bereitstellungsdiagramm beschreibt die Versorgungssituation
im Konvergenzpunkt durch die auf den Bedarfstermin normierte Zugangs- und Komplettierungskurve.
Es lässt Aussagen über die Termintreue der Versorgungsprozesse sowie Aussagen
über den Bestand an komplettierten und nicht komplettierten Aufträgen am
Konvergenzpunkt zu. Ein hoher Anteil an fertig komplettierten Aufträgen wird
dann realisiert, wenn der Schnittpunkt der Komplettierungskurve und der den Bedarfstermin
darstellende senkrechte Graph möglichst weit oben liegt. Der gestörte Bestand,
als Fläche zwischen den beiden Kurven wird dann minimiert, wenn durch die Versorgungsprozesse
die geforderten Teile gleichzeitig und rechtzeitig bereitgestellt werden und
somit ihrerseits eine hohe Termineinhaltung aufweisen. Diese Termineinhaltung
kann zudem über die Nutzung der Sicherheitszeit gesteuert werden, was jedoch
mit höheren Durchlaufzeiten und Beständen einhergeht (Schmidt 2011, Nyhuis et al. 2013, Schmidt et al. 2014, Beck 2013).
Bei dem Kernprozess Distribution muss zwischen einem Lagerfertiger und
einem Auftragsfertiger unterschieden werden. Handelt es sich um einen
Lagerfertiger, so können in der Distribution die gleichen Lagerkennlinien wie
in der Beschaffung eingesetzt werden. Bei einem Auftragsfertiger sind die Zielgrößen
die Termineinhaltung und die Lieferzeit (Logistikleistung) sowie ein geringer Fertigwarenbestand
(Logistikkosten) und eine damit verringerte Liegezeit der Aufträge bis zum
Auslieferungstermin. Die Regelgröße ist hier die Sicherheitszeit: Sie stellt
einen zeitlichen Puffer zwischen der geplanten Fertigstellung eines Auftrags
und seiner zugesagten Auslieferung dar. Bei einer hohen Sicherheitszeit kann ein
Großteil der zugesagten Termine eingehalten werden. Gleichzeitig steigen aber
die Lieferzeit und der Fertigwarenbestand. Diesen Zusammenhang zeigen die
Termineinhaltungskennlinien (Nyhuis, Schmidt 2011).
Die logistischen Kennlinien sind Wirkmodelle, die die Zusammenhänge zwischen
logistischen Zielgrößen quantitativ beschreiben. Ihr Verlauf hängt von
verschiedenen Einflussparametern ab und ändert sich in Abhängigkeit dieser. Dadurch
können logistische Maßnahmen mithilfe der Kennlinien bewertet werden, was vielfältige
Anwendungsmöglichkeiten bietet (Abb. 2). Sie bilden eine ideale Grundlage für
den Ausbau und die Überwachung von Prozesssicherheit und Prozessfähigkeit.
Gleichzeitig dienen sie der Bewertung von Prozessabläufen im Rahmen eines Controllings
logistischer Prozesse sowie zur Potenzialableitung. Sie zeigen beispielsweise
auf, welche Durchlaufzeiten und Bestände bei vorliegenden strukturellen
Bedingungen erreicht werden können, ohne dass es zu signifikanten Materialflussabrissen
und damit Leistungseinbußen kommt. Im Rahmen der Produktionsplanung und -steuerung
lassen sich Zielparameter wie Sicherheitszeit, Sicherheitsbestände oder
Durchlaufzeiten zielfkonform ableiten.

Abb. 2: Einsatzmöglichkeiten logistischer Kennlinien bei der
Gestaltung von Produktionsprozessen
Stellt sich heraus, dass die gesetzten Zielwerte nicht erreichbar
sind, können die Kennlinien zur Unterstützung und Evaluation von Planungsaktivitäten
herangezogen werden und somit die Prozessfähigkeit erhöhen. Auf diese Weise
können alternative Planungs- und Steuerungsstrategien bewertet und ausgewählt
werden. Auch kann die Kennlinientheorie in das Planungs- und
Steuerungsverfahren (z.B. Losgrößenbestimmung) integriert werden. Im Rahmen der
Prozessgestaltung in der Produktion können die Kennlinien beispielsweise bei
der Produktionsstrukturierung, bei der Bestimmung des Kundenentkopplungspunktes
oder der Layoutplanung eingesetzt werden. Grundlage für alle genannten
Anwendungen ist die logistische Positionierung, die die Zielvorgaben liefert
und somit auch ein Bindeglied über alle Einzelfunktionen darstellt.
Literatur
Beck, S. (2013): Modellgestütztes Logistikcontrolling
konvergierender Materialflüsse. Garbsen: PZH Produktionstechnisches Zentrum
(Berichte aus dem IFA)
Lutz, S. (2002) Kennliniengestütztes Lagermanagement. VDI,
Düsseldorf
Nyhuis, P. (1996) Lagerkennlinien - ein Modellansatz zur
Unterstützung des Beschaffungs- und Bestandscontrollings. In: Baumgarten H,
Holzinger D, v. Rühle H, Schäfer H, Stabenau H, Witten P (eds.) RKW-Handbuch
Logistik, Erich Schmidt, Berlin, pp. 5066/1-5066/30
Nyhuis, P. and Wiendahl HP (2009) Fundamentals of Production
Logistics - Theory, Tools and Applications. Springer, Berlin
Nyhuis, P. and Schmidt, M. (2011) Logistic Operating Curves in
Theory and Practice. In: Schmidt M (ed) Advances in Computer Science and
Engineering, InTech, Rijeka, pp. 371-390
Nyhuis, P.; Beck, S.; Schmidt, M. (2013): Model-based logistic controlling of converging material flows. In: CIRP Annals - Manufacturing Technology 62 (1), 431–434.
Schmidt, M.; Bertsch, S.; Nyhuis, P. (2014) Schedule compliance operating curves and their application in designing the supply chain of a metal producer. In: Production Planning and Control: The Management of Operations 25 (2), pp. 123-133
Schmidt, M. (2011): Modellierung logistischer Prozesse der
Montage. Garbsen: PZH, Produktionstechnisches Zentrum (Berichte aus dem IFA)
Autor
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter Nyhuis, Leibniz Universität Hannover, Institut für Fabrikanlagen und Logistik, An der Universität 2, 30823 Garbsen
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